Es wird kalt in der Hauptstadt. Traurig warten verlassene E-Scooter auf Bürgersteigen, Fahrradwegen und Plätzen auf Fahrlustige. Die erste Schlacht um die „neue Mobilität“ scheint geschlagen. Nach den Leihrädern wurden nun die Leihroller über Berlin ausgekippt. Statt Lime-Pedelecs bevölkern Lime-E-Scooter die Innenstadt. Der harte Kampf um´s große Geschäft lässt sich den ehemaligen Kindermobilen anmerken. Es sind zwar nach wie vor viele. Aber alle sehen sehr mitgenommen aus – wie gerupfte Hühner. Die Fahrzeuge der anderen Scheinriesen Voi und Circ gesellen sich vereinzelt dazu. Tier aus Berlin macht sich rar. Nur an sehr zentralen Orten lässt sich ein mintfarbenes Rolltierchen blicken. Die meisten Konkurrenz-Produkte sehen weniger abgewrackt aus als die Feetracer des Mega-Startups. Allein: Bird fehlt komplett. Der Shooting-Star des Jahres 2017 hat sich anscheinend dagegen entschieden, sich sichtbar durch den Winter zu quälen – Marktpräsenz hin oder her.
E-Scooter ersetzen vor allem Gänge zu Fuß
Inzwischen kann auch Deutschland auf sechs Monate „Global“ Mobility Hype zurückblicken. Es wird sogar als einer der Hauptmärkte dieser Mobilität gehandelt. In 58 Städten beteiligen sich die etwas gewöhnungsbedürftigen Kollegen am Gerangel um den Straßenraum. Civity aus Hamburg hat die verfügbaren Daten – und das sind nicht wenige – analysiert. Ihr Fazit von Ende September: Vermutlich ein Hype ohne größere Konsequenzen. Tourist*innen scheinen die recht teuren Gefährte zu lieben. Sie fahren sie meist auf kurzen Strecken – in den touristischen Zentren. Ohne die Gefährte wären sie vermutlich eher zu Fuß gegangen, oder hätten Leihräder genommen. Weder ÖPNV-noch PKW-Fahrten werden signifikant durch sie ersetzt – jedenfalls nicht in Deutschland. Ob irgendwas von der Flutwelle bleibt, ist noch nicht absehbar.
Einbettung in die urbane Mobilität
Oder doch? Bleibt vielleicht wider Erwarten etwas? Die vier Hauptanbieter bemühen sich zunehmend um Vernetzung mit anderen Verleihdiensten. Einbettung in den urbanen Verkehr scheint ihnen ein Anliegen zu werden. Städte lassen ihnen nämlich öfter keine andere Wahl. So haben sich die vier Musketiere auf eine Vereinbarung mit dem deutschen Städtetag eingelassen. Die zeitigt denn auch positive Ergebnisse: z.B. Hamburg geht in die Vollen. Es limitiert die Roller zwar einerseits streng, andererseits laufen Projekte zur echten Integration in die multimodale Mobilitätskette. Für interessierte Kommunen und User*innen gibt sogar das UBA gibt inzwischen Empfehlungen raus.
Auch amerikanische Städte bemühen sich, um konstruktiven Umgang mit den Gefährten. Sicher, die US-amerikanische Mobilität ist nicht mit der europäischen vergleichbar. Sie ist deutlich PKW-lastiger. ÖPVN ist vergleichsweise schwach und Radverkehr kaum Thema. E-Scooter haben es dort leichter. Trotzdem die Projekte sind ein Schritt in die richtige Richtung. Schon gibt es zähen Streit zwischen Los Angeles und Uber um die Datenhoheit.
VC Eldorado
Einige amerikanische Städte sind not amused andere schon – besonders kalifornische. Immerhin sind die VC-Lieblinge im Wesentlichen eine Idee aus dem Silicon Valley. Innerhalb von knapp zwei Jahren Produktlaufzeit gibt es US-Firmen die mit einem Wert von 2,4 Milliarden Dollar gehandelt werden. Der selbe Anbieter machte 2019 300 Mio. Verluste. 2018 waren es sogar noch mehr. Venture Capital Geber aus aller Welt schmeißen Riesensummen in diese „neue“ Mobiliät. Trotz Verlusten bleiben sie dran. Vielleicht weil die Summen letztlich nur Peanuts sind? Oder verspricht diese hochgradig algorithmisierte Fortbewegungsmöglichkeit doch das ganze große Geschäft? Forbes fragt sich in dem Zusammenhang, ob viele Investoren nicht vor allem auf die integrierbaren Paymentmöglichkeiten peilen.
Die Kapitalportfolien der Startups sind bunt. Beispielsweise wird Tier im Dez. 19 vor allem von Softbank (Japan) Mubadala (Saudi Arabien) und Goodwater (USA) gestützt. Voi kann seit seinem Start auf Vostok u.a. zählen. Und Lime, ja, Lime alias Neutron Holding bleibt in der Hand von US-staatsnahen Investoren – unter anderem Alphabet (Google). Spannenderweise finden sich oft Personenprofile mit asiatischem Hintergrund.
Bei Circ ist der Gründer gleichzeitig ein treibender Investor. Getestet hatte er das Investment in Micromobility bereits in Mexiko. Die Vernetzung im Kapitalbereich ist engmaschig. Aus welcher Weltregion das Unternehmen kommt, in das investiert werden soll, scheint nachrangig zu sein. Wenn die Businessidee entsprechend Profit verspricht, sprudelt global Geld in rauhen Massen. Jetzt hat VC eben E-Scooter-Startups entdeckt.
Produktion zentralisiert in China
Während das Kapital aus allen Teilen der Welt zusammenfließt, ist die Produktion erstaunlich „lokal“. Alle Operatoren lassen in China produzieren, um genau zu sein: in Shenzhen (HL Corp. und Tycoon) und Yongkang. Vor eineinhalb Jahren begann die Produktion ganz harmlos in Bejing. Inzwischen gibt es sogar schon deutsche Fahrzeugversionen, die zackige Preise aufrufen. Die meisten Flottenanbieter sind zudem vorsichtshalber dazu übergegangen, das Engineering inhouse zu unterstützen.
Es ist beeindruckend, welche Fertigungskapazitäten chinesische Firmen quasi aus dem Nichts aktivieren können. Exorbitante Stückzahlen produzieren und verschiffen – kein Problem. In Sachen Logistik, Flexibilität, Arbeitseinsatz legt China ein Masterpiece hin und ist sichtbar stolz.Warum auch nicht?
Die Krux der kurzen Nutzungsphase
Die Einkaufspreise sind noch vertretbar, weil die Arbeitswelt auf dem Subkontinent nach wie vor ganz anders aussieht als in Europa oder den USA. Nichts desto trotz lässt sich der Produktionstycoon China seinen Einsatz inzwischen sichtbar bezahlen. Im Netz kursieren Preise bis 450 € p.P.. Ab Werk sind die allerdings nicht.
Trotzdem: die Operatoren schreiben rote Zahlen. Das Problem wird der Rollerqualität zugeschoben. Kein Wunder, waren sie doch anfangs nur für die private Nutzung gedacht. Doch auch nach eineinhalb Jahren sind sie recht wenig geeignet für den harten Einsatz. Angefangen mit 28 Tagen Lebenszeit sind die Treterlis inzwischen immerhin bei ganzen drei Monaten Einsatzzeit gelandet. Schon dienen Bilder von Bergen geborgener Roller als Aufmacher diverser Artikel.Nachhaltigkeit sieht anders aus.
Wo sind all die Roller hin?
Auch die Mikromobilitätsanbieter finden das – zumindest in ihrem Marketing. Es hagelt Lippenbekenntnisse. Real in Aktion getreten sind bisher wenige. Voi (Pdf), die Skandinavier, haben zumindest Recycling-Partnerschaften geschlossen. Ob die verwirklicht werden, steht in den Sternen. Tier offeriert einen anderen Problemlösungsansatz: ihre Idee ist der Verkauf an Privatkund*innen. Überschlägt frau Rollermassen und Lifecircle, passt diese Lösung kaum mit den zu entsorgenden Mengen zusammen. Der Rest der Verleiher hat noch weniger zu bieten: sie hüllen sich in Schweigen oder geben sich äußerst vage.
Einen Lichtblick gibt es. Die europäischen Hersteller bemühen sich um Tauschbatterien. Das ist ein Anfang. Der ist auch notwendig, denn im August hat die Universität North Carolina den Vehikeln ihre Umweltfreundlichkeit leider schlicht abgesprochen.
Was haben die Tretroller an IT zu bieten?
Natürlich sind die ersten Radweg-Bomber schon gehackt worden. Beim M365 zeigte die Bluetooth-Schnittstelle Schwächen, die der Hersteller dummerweise nicht mal beheben konnte. Insgesamt scheinen sie IT-technisch State of the Art zu sein. Software und Cloud-Anwendungen wo das Auge hinblickt: Neben Paymentimplementierung kommen ausgefeilte Algorithmen bei den Predictive Diagnostics und im Flottenmanagement zum Einsatz. Das MDS-Tool (open source) kann Kommunikation mit Kommunen herstellen. Geofencing und externe Geschwindigkeitskontrolle ist anscheinend selbstverständlich geworden. Für die User*innen bedeutet das: die Geräte lassen sich nicht mehr überall abstellen. An manchen Orten werden ihre Flitzerchen zudem zu sehr lahmen Enten. Für die Operatoren entsteht durch die dezidierte GPS-Ortung nebenher wunderbar anderweitig einsetzbares Big Data.
Sensor und Co.
Lime verlangt zusätzlich Fotos vom Abstellort. Der Konzern möchte überprüfen, ob auch wirklich korrekt geparkt wird. Auch Bird lässt sich nicht lumpen. Ein Vandalismus-Sensor telefoniert nach Hause – nur im Fall der Fälle selbstverständlich. Überhaupt zeigen sich die Roller im Sensor- und IoT-Bereich natürlich bestens ausgerüstet. Sie sind sogar schon dabei zu lernen, sich selbst nach haus zu fahren. Fast vergaß ich zu erwähnen: Natürlich geschieht der Einsatz der Technik nur zum Wohle der Nutzenden. Sicherheit schreiben die Hersteller selbstverständlich ganz groß.
Das ist auch gut so, denn die Fahrer*innen sind quasi für alles selbst verantwortlich. So steht es in den AGBs von Voi, Lime und anderen. Übrigens: das fand die Verbraucherzentrale überhaupt nicht witzig und mahnte ab. Die Resultate sind bisher dürftig. So erklärte beispielsweise Tier sich zu bessern. Passiert ist bisher leider nichts.
Die leidigen Daten
Eigenverantwortlichkeit im Handling ist also großgeschrieben – in der Datenverwaltung dagegen weniger. Los geht´s schon damit: ohne Google oder App Store-Anmeldung geht fast gar nichts. Lediglich die Voi- und Tier-Apps sind frei downloadbar. Deren User*innen stimmen bei Anmeldung u.a. zu, dass ihre Daten bei einer Geschäftsfusion weitergegeben werden dürfen. Bei Lime wird einer schon beim Diagonallesen der Datenschutzbestimmungen schwindelig. Selbst die schlechtbezahlten Juicer*innen liefern dem Startup einen wahren Datenberg ab. Den die Verleiher natürlich nicht gern wieder hergeben. Das mag normal sein. Klar, alles ist inzwischen irgendwie vernetzt. Irgendeinen Überblick über die Datenflüsse zu bekommen, ist ein Sisyphos-Job. Schöner wird die Lage dadurch doch trotzdem nicht. Besonders dann, wenn der einzige Ausweg aus dem Dilemma ist, die Gefährte gar nicht erst zu nutzen. Inklusion geht anders.
Der Hamburger Datenschutzbeauftragte beklagt sich denn auch bitterlich über die Verleiher. Er rät vehement von einem Trip ab. Ob eine solche Warnung Sinn macht, ist fraglich.
Immerhin: der Städtetag hat schon mal kontinuierliche Datenübermittlung eingefordert (Pdf) und wünscht sich parallel datengestützte Bonussysteme. Das kommt den Verleihern sicher entgegen. Tja, lässt da China grüßen?Und noch was: Die Recherche zur Datenlagerung habe ich erst mal auf Eis gelegt.Infos dazu waren im ersten Anlauf einfach nicht zu finden.
Fazit: neue Mobilität – Vernetzung in allen Gassen
Die Roller sind ein eindrückliches Beispiel digitaler Mobilität. Hochgradig vernetzte Kapitalgeber zaubern im Handumdrehen Budgets für riesige Gerätemassen, Softwareimplementierung u.a. aus dem Hut. Die Hardwareproduktion ist daher nur ein Klacks. Auch hier wird sicher wohlalgorithmisierte Arbeitsorganisation eingesetzt. Die Softwareentwicklung in Schallgeschwindigkeit ist bei den Budgets natürlich auch kein Ding. È voilá: verhältnismäßig kleine Startups verwalten und beservicen Fahrzeug- und User*innenmassen. Doch damit nicht genug der digitalen Vernetzung. Glücklicherweise passiert die Fahrzeugnutzung quasi in Eigenregie – dank Datenaustausch, Sensoren und passenden AGBs. Zusätzlich ermöglicht die Datenflut leichtgängige User*innen-„Governance“. Bei dieser Form der Connected Mobility brauchen die Fahrzeuge daher nicht mal unendlich viele teure Sensoren.
Aber da sind noch ein paar Dinge, die bei dieser Form der Connected Mobility ins Auge springen. Sie haben viel mit Business und wenig mit digitaler Vernetzung zu tun. Da wäre beispielsweise das Thema Produktentwicklung wegen spezieller Nutzungsanforderungen? Ach was, die lässt sich doch on the Flow nach der Markeinführung machen. Und das „kleine“ Entsorgungsproblem von sehr kurzlebigen Fahrzeugen? Ist eben noch nicht gelöst. Und irgendwie ist der Deal für die User*innen im Gesamtüberblick nicht wirklich eine Win-Win Lösung. Relativ hohe Fahrpreise kommen im Schulterschluss mit massiver Datenabgabe daher; von den unterbezahlten Juicer-, Ranger-, Hunter*innen mal ganz zu Schweigen.
Ein paar offene Fragen
Last but not Least: Sind die User*innen wirklich mit der Fernsteuerung ihrer Fahrzeuge einverstanden? Oder wurden sie schlicht nicht gefragt? Und: macht diese Mobilität in der Masse hier in Europa überhaupt Sinn? Wenn ja, für welche Zielgruppe? Ist sie unter realistischen Bedingungen finanzierbar? Will sagen: mit langlebigen Fahrzeugen, professionellem Service, erschwinglichen Preisen und nachhaltiger Entsorgung.
Zum Nachdenken darüber hat sicher bisher die Zeit gefehlt. Wie wäre es, die noch zu investieren? Vielleicht lassen sich dann sogar vergleichsweise schnell ein paar echte Mobilitätssorgen lösen.
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