Das Thema künstliche Intelligenz treibt mich seit einiger Zeit um. Mitte Februar ergab sich endlich die Gelegenheit, die Big-Businessseite von KI mal inside zu erleben.
Kostenloses Angebot wird zu „Stipendium“
Microsoft Berlin öffnete im Rahmen seiner „AI-for-Earth“-Strategie die Pforten für einen Ideation-Workshop. Ein gemischtes Publikum war eingeladen, dem Konzern zu helfen, vorzeigbare Anwendungskonzepte für die hauseigenen Cloudresourcen und -tools zu entwickeln. Es ging darum, zu demonstrieren, dass KI durchaus für sinnvolle Projekte zu verwenden ist. Daher sollten Konzepte rund um das Themengebiet Schutz der Erde entstehen. Der Big Player bot nicht Geld sondern „Lorbeeren“: ein Stipendium. Das beinhaltet: Cloudspace – auf konzerneigenen Servern versteht sich – und projektbezogen die kostenlose Nutzung von verschiedenen Services (diverse Learning-Algorithmen, Cloud-Dienste und -space), eine Online-Einführung in die Tools und die Projektveröffentlichung.
Projektvermarktung übernimmt Konzern
Ein achtköpfiges Team managt diese Marketingstrategie. Persönliche Betreuung der StipendiatInnen ist laut Alma Cardenas, der eigens nach Berlin eingeflogenen Leiterin von „AI for Earth“ kaum möglich. Dazu würden dem Team einfach die Kapazitäten fehlen – verständlich bei einem „Stipendium“ das weltweit ausgeschrieben ist. Sollten nach der Einführung noch Probleme auftreten, stehe ein Online-Forum zur Verfügung. Die Datensets haben die StipendiatInnen selbst mitzubringen, denn es gibt zu wenig verwertbares Big Data. Microsoft arbeite daran, versicherte Alma Cardenas. Aktuell greife man auf öffentliche Daten zurück. Zum Sortieren und Säubern der Daten (Labeling) stellt der Konzern Geld zur Verfügung. Die Veröffentlichung der Projektergebnisse kann Microsoft auf Wunsch übernehmen – natürlich unter seinem Namen.
Man kann übrigens die ganze „Service“-Palette auch ohne „Stipendium“ temporär kostenlos nutzen. Allerdings bietet der Konzern dann keine Projektveröffentlichung unter seinem Label.
prominente TeilnehmerInnen
Das TeilnehmerInnenspektrum (40m / 6w) bewegte sich zwischen IT- Studis und MitarbeiterInnen von DLR, BASF, TU Berlin, politischen Institutionen und anderen – für dieses Workshop-Format eine überraschende Runde. Da es um Klimaschutz ging, ließen sich alle gern einspannen. Tapfer arbeiteten wir einen engen Zeitplan ab – angetrieben von einem gemischten Fraunhofer- und Microsoft-Team und einem microsoftnahen „Beirat“. Zu dem gehörte u.a. Bayer, der WWF, zwei Mitarbeiterinnen von Microsoft und Ashoka. Der Bill & Melinda Gates Stiftung liegt diese Organisation besonders am Herzen.
Fraunhofer: psychologische Schulung profitabel eingesetzt
Insgesamt 19 BeraterInnen kümmerten sich fürsorglich um 46 TeilnehmerInnen (40m / 6w). Die wiederum ließen sich durch Speeddating, Lockerungsspiele und regen Einsatz von Gongs und Zeitremindern in produktiven Stress versetzen. Die Druck-Strategie der Fraunhofer-Teamleiterin ging auf: In nur 1,5 Tagen entwickelten wir neun Ideen, die Microsoft eines „Stipendiums“ würdig befand. Alma Cardenas wählte sie unter ca. 50 Ideenskizzen aus. Präsentiert wurde per Pitch – ganz in Business-Manier. Die Professionalität, mit der ein Fraunhofer-Team Ideen für den US-Konzern aus dem Boden stampfte, war beeindruckend.
Gesichtsdiversität statt -erkennung
Beeindruckend war auch der Stand der Technik der Gesichts- und Spracherkennungsalgorithmen von Microsoft – oder anders ausgedrückt: überraschend. Direkt nach der Ankunft stand ich einem Screen gegenüber, der mich in voller Montur zeigte. Das obligatorische Kästchen über meinem Kopf erklärte mir, wer ich bin: zwischen 23 und 51 Jahre alt, Stimmung von unfreundlich über neutral bis freundlich, Geschlecht: Frau oder Mann. Was hätte der Algorithmus gemacht, wenn ihm mehr Geschlechter zur Verfügung gestanden hätten?
Hi mein Ding D, say Yes
Die Spracherkennung faszinierte mich mindestens genauso. Während Alma Cardenas sprach, lief nebenher auf einem Bildschirm ein sich permanent aktualisierender Text. Der Algorithmus ließ sich quasi beim Arbeiten zusehen. Er wiederholte gern Worte wie Handy, Baby oder Express. Oder er grüßte seine LeserInnen mit: „Hi mein Ding D, say Yes“, während Alma Cardenas sagte: „I`m bringing these ideas…“. Zwischendurch musste die Software immer wieder neugestartet werden, unter anderem weil der gezeigte Text zu sexistisch oder rassistisch wurde oder sich in eine Werbeplattform verwandelte und überwiegend Schlagworte wie Aldi Nord, Brinkmann, Skype etc. ausspuckte.
Die Fraunhofer-Teamleiterin kommentierte das Maleur wütend mit: „Wir hatten leider keinen Einfluss auf diese Präsentation.“ Sollte das wirklich der Stand der Technik sein, dürfte bis zu „künstlicher Intelligenz“ noch ein weiter Weg sein.
Algorithmen bieten phantastische Businessmodelle
Vergleiche ich den gesehenen Stand der Technik mit dem, was der Konzern suggerieren will, fällt mir eigentlich nur eines ein: Für die Industrie ist die Digitalisierung die Rettung. Statt sinkender Profitraten lassen sich nun Zuwächse ungeahnten Ausmaßes generieren. Besonders das Lieblingsbaby „KI“ verspricht goldene Zeiten. Machine und Deep Learning und andere Algorithmen bieten nicht zu verachtende Möglichkeiten riesiger Kapitalzuwächse.
Ob die Sache technisch allerdings wirklich funktioniert und auch gesellschaftlichen Nutzen hat, ist eigentlich für Durchschnittsmenschen bisher nicht klar. Die Industrie scheint zu hoffen und verbreitet in der Testphase schon mal phantasieanregende Visionen – und vor allem möglichst wenig echte Infos.
Umwelt ade
Microsoft sucht nach Lösungen, die die gesellschaftliche Akzeptanz seiner Services erhöhen. Außerdem möchte der Konzern Speicherplatz in seinen Rechenzentren verkaufen. Diese entstehen gerade unter anderem in der Nordsee. „Natick“ nennt sich das ökologisch umstrittene Projekt. Laut D. Johann, bei Microsoft verantwortlich für Data Architecture, bilden sich um den Stack schon Biotope mit hoher Biodiversität – dank der Strahlungswärme. Die Biotope vor Orkney sind auch ohne den Stack sehr artenreich. Mit dem Unterschied, dass aktuell kälteliebende Organismen dort ihr zuhause haben. Welche Folgen der Eingriff in das Ökosystem hat, ist nicht klar. D. Johann glaubt jedenfalls, dass sein Arbeitgeber zum Umweltschutz beitrage.
Meine Empfehlung für die Vorbereitungsphase auf die voll digitalisierte Industrie:
Sollte bei der marktgetriebenen Digitalisierung etwas schiefgehen, lassen sich so direkt wirklich umweltfreundliche Lösungen zum Schutz der Erde aus dem Ärmel schütteln.
*Bildrechte: „Ideation für KI im kommerziellen Einsatz“ : 1. 22Kartika, licence: CC BY-SA 3.0 / 2. theoceancleanup.com / 3. Rodolfo Buhrer, agencialaimagem.com.br / 4. Konny, holidaycheck.com / 5. Irina Lolenko, chernobylguide.com